Zugvögel und Leipziger Lerchen

„Hunderttausend Lerchen jubeln, jubeln laut in meiner Seele.
Und in ihre Lieder stimm´ ich selber ein aus voller Kehle.“
[…]
[…] „Also strömt der Lenz der Liebe zaubermächtig auf mich nieder,
und in meiner Seele jubeln hunderttausend Lerchenlieder.“

Zugvögel auf langen Reisen

Seitdem ich hauptsächlich im Ausland lebe, habe ich Einiges gemein mit einem Zugvogel. Von der etablierten Existenz im fernen Land pendele ich regelmäßig zurück in die Heimat. Instinktiv angetrieben von der Sehnsucht und Notwendigkeit sich mit den Wurzeln zu verbinden und die eigene Identität aufzufrischen. Ähnlich dem Flug der Gänse, Kraniche, Schwalben und Störche gen Süden, ist meine Reise zu gleichen Teilen zielstrebig und langsam. Mit dem Zug nach Torgau, über Kopenhagen, Hamburg, Berlin und Leipzig. Irgendwo in Norddeutschland öffnet sich das Herz. Es fühlt sich an als wäre man seit Langem im Inneren wieder richtig warm.

In Leipzig am Hauptbahnhof ist es endlich Zeit für den traditionellen Zwischenaufenthalt in der Ludwigs Buchhandlung. Danach ein Kaffee und eine Leipziger Lerche. Diese ist ein Markenzeichen der Stadt, hat es doch etwas ganz Besonderes auf sich mit diesem Vögelchen …

Die Leipziger Lerche 1)

Als Sachsen noch ein Land der Fürsten und Gräfinnen war, landeten viele Singvögel, allen voran die Lerchen im Kochtopf. Sächsische Kochbücher aus den Jahren 1712 bis 1850 preisen zum Beispiel „Lerche am Spieß“ und „Lerchenbrüstchen mit Trüffel“ als regionale Delikatesse an. Die Lerchen erlangten eine traurige Berühmtheit, wurden abgepackt und verbrauchsfertig in ferne Hofküchen bis nach Spanien und Moskau verschickt. Für die Leipziger Kaufleute war dies ein lukratives Geschäft, dem allerdings Ende des 19. Jahrhunderts die Puste ausging. Möglicherweise kam es durch den Eingriff in das ökologische Gleichgewicht zu Insektenplagen? Überliefert ist auch, dass der Tierschutz Sachsens erfolgreich auf die Barrikaden ging. Zudem, dass schwere Unwetter den dezimierten Bestand an Singvögeln so existentiell bedrohten, dass ein „Lerchenverbot“ in Kraft trat.

Kuchen essen, Vögel retten

Was aber tun, wenn die adligen Herrschaften fortwährend nach den Leipziger Lerchen verlangen? Unmöglich konnte man sie mit knurrenden Mägen vor leeren Tellern sitzen lassen! In sorgfältiger Assoziation erfanden die Leipziger Bäcker einen Ersatz, welcher den echten Lerchen das Überleben sicherte und mindestens genauso gut schmeckt. Fortan meinte eine kulinarische „Leipziger Lerche nämlich ein Törtchen aus Mürbeteig mit Mandelfüllung, dass in Größe und Form an die echte Lerche erinnert. Der Marmeladenklecks im Inneren, ob Aprikose oder Kirsche, symbolisiert das Vogelherz. Das Kreuz aus Mürbeteigstreifen meint die Fäden, mit denen ursprünglich der Vogelbalg bei der Zubereitung zusammen gehalten wurde.

Innehalten und Weiterreisen

Mit Leipziger Witz und Einfallsreichtum haben die echten und falschen Lerchen bis heute überlebt und sind beliebt wie nie zuvor. Zu jeder Zugfahrt frühmorgens ab Leipzig gehört eine Lerche, als Reiseritual für Frühaufsteher. Am Hauptbahnhof kaufe ich das Küchlein am liebsten bei der Lukas Bäckerei. Reicht die Zeit für einen Bummel durch die Leipziger Innenstadt, gibt es die Lerche im traditionellen Café Kandler an der Nikolaikirche. Die Lerche zum Selbermachen findet ihr in unserem Rezept, inklusive Buchvorstellung!

Am Ende aller Lerchen bleibt das Weiterreisen in fröhlich-wehmütiger Zugvogelmanier. Das Scheppern der Lautsprecheransagen am Bahnhof, Muttersprache und Dialekte gemischt mit dem Zwitschern der Singvögel: So klingen Herzfasern wenn Heimweh, oder Fernweh, an ihnen zieht.

 

1) Nacherzählung zu großen Teilen entnommen aus dem Geschichtsblatt „Leipziger Lerchen“ von Café Kandler in Leipzig.

Gedicht: Arthur Fitger, Ausschnitte „Hunderttausend Lerchen jubeln“, 1883
Titelbild: Line Grube mit talentierter Unterstützung von Klara Kopielski und Helga Ungethüm, „Lerchen und andere Singvögel in Kirschzweigen“, 2023
Text: Line Grube, 2023

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